Gehorsam, der nicht denkt – Eine deutsche Versuchung


Es gibt Formen des Gehorsams, die nicht aus Überzeugung entstehen, sondern aus Gewohnheit. Sie sind nicht getragen von einem klaren ethischen Urteil, sondern vom Wunsch, dazuzugehören, nicht aufzufallen, sich einzufügen. Dieser Gehorsam ist leise, unauffällig – und gerade deshalb gefährlich. In der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hat er sich auf fatale Weise in Bewegung gesetzt. Zwei große Stimmen, die diesen Zustand unabhängig voneinander analysierten, waren Hannah Arendt und Thomas Mann. Die eine philosophisch, die andere literarisch – beide jedoch sehr weit- und hellsichtig:


Arendt und Mann hatten einen scharfen Blick für gesellschaftliche Strukturen, mentale Muster und Gefahren, die viele ihrer Zeitgenossen entweder übersahen oder verdrängten.


Bei Thomas Mann ist diese Hellsichtigkeit z. B. darin zu sehen, dass er in Der Untertan (1914!) bereits jenen autoritären, konformistischen Charaktertyp beschreibt, der später im Nationalsozialismus eine zentrale Rolle spielte.


Bei Hannah Arendt zeigt sich die Hellsichtigkeit in ihrer Fähigkeit, das scheinbar „Normale“ – etwa Eichmanns Bürokratensprache – als Warnsignal für ein viel tiefer liegendes moralisches Problem zu erkennen.


Hannah Arendt, die als jüdische Denkerin vor den Nationalsozialisten fliehen musste, beschäftigte sich intensiv mit der Frage, wie es zu den beispiellosen Verbrechen des NS-Regimes kommen konnte. In ihrem Bericht über den Prozess gegen Adolf Eichmann prägte sie den Begriff von der Banalität des Bösen. Eichmann, der zentrale Organisator der Judendeportationen, zeigte sich im Gerichtssaal nicht als dämonischer Mörder, sondern als ein Bürokrat, der „nur seine Pflicht“ getan haben wollte. Arendt schrieb: „Das Erschreckende an Eichmann war gerade, dass so viele wie er waren, und dass die vielen weder pervers noch sadistisch waren, sondern schrecklich und furchtbar normal.“ Es war nicht Hass, der ihn trieb, sondern Gedankenlosigkeit – ein funktionierendes Rad im Getriebe der Macht, so die Schlussfolgerung von Arendt.


Schon Jahrzehnte zuvor hatte Thomas Mann mit seinem Roman Der Untertan ein scharfes Porträt dieses Gehorsams gezeichnet. Die Hauptfigur Diederich Heßling ist ein Mann, der sich mit unterwürfiger Begeisterung der Autorität andient und Macht nach unten ausübt, sobald sie ihm verliehen wird. Er lebt nicht aus eigener Haltung, sondern aus einem tief verinnerlichten Bedürfnis, sich anzupassen – und dabei zu herrschen. Mann schreibt: „Er war ein Untertan mit Leib und Seele. Er liebte den Staat, wie er war. Jede Änderung erschien ihm als frevelhafte Bedrohung.“ So entsteht eine Karikatur des obrigkeitshörigen Menschen – eine Figur, in der sich viele Aspekte der deutschen Mentalitätsgeschichte bündeln lassen.


Beide Werke zeigen: Gehorsam ist nicht neutral. Er kann zum Instrument werden – dann nämlich, wenn das eigene Denken ausgeschaltet und an äußere Instanzen abgegeben wird. Was bei Arendt als erschütternde Analyse nach Auschwitz aufscheint, deutet sich bei Mann bereits als Vorausschau auf kommende Verblendungen an. Während in anderen Ländern der Widerstand gegen die Obrigkeit – etwa in Frankreich – tief in der politischen Kultur verankert ist, wurde in Deutschland allzu oft die Ordnung über das moralische Urteil gestellt. Die Parole „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ war nie bloß Floskel, sondern Ausdruck einer kollektiven Haltung.


Diese Haltung aber hat einen Preis. Wer sich blind einfügt, verliert die Fähigkeit zum Urteil. Arendt sah in dieser Denkfaulheit – oder genauer: im freiwilligen Verzicht auf eigenes Denken – den Kern der Katastrophe: „Niemand hat das Recht zu gehorchen“, schrieb sie später. Eine radikale, aber notwendige Umkehrung jener Sätze, mit denen sich so viele Täter und Mitläufer ihrer Verantwortung entzogen. Mann wiederum zeigt im Untertan, wie früh schon dieses Selbstbild des gehorsamen Bürgers zur bequemen Ausrede wurde – und damit zur gefährlichen Grundlage für späteren Fanatismus.


Es ist eine Lehre, die auch heute noch Bedeutung hat. In Zeiten zunehmender Polarisierung, autoritärer Versuchungen und digitaler Filterblasen bleibt die Fähigkeit zum kritischen Denken entscheidend – nicht nur als politisches Ideal, sondern als Voraussetzung einer lebendigen, menschlichen Gesellschaft. Gehorsam mag Ordnung schaffen. Aber nur der hinterfragende Zweifel schützt Würde und individuelle Freiheit.